Warum Dortmund das neue Leipzig ist
Ich verkünde hiermit offiziell und Kraft des mir durch mich selbst verliehenen Amtes: Leipzig is over. Leipzig ist nicht mehr Hypezig, höchstens noch Binichleidzig oder Wasistdasfür1lifezig. Wer jetzt cool sein will, wer jetzt alternativ und hip ist, wer sich jetzt noch traut, mit der Wohnortwahl bei Freunden und Verwandten anzuecken, der geht nach Dortmund.
Denn erstens klingt Dortmund so scheiße und uncool, dass man sich dafür keinen Hype-Namen ausdenken kann, der nach sechs Minuten im aktiven Wortschatz schon wieder peinlich ist. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Dortmunds Hype-Name sein könnte (30 Sekunden) und bin gescheitert. Folglich gibt es keinen. Oder nur solche, in denen Wortspiele mit Nase und Augen vorkommen. Und die habe ich schon zu genüge gemacht, als ich vier Jahre alt war.
Zweitens hat Dortmund zwar schon die ganze Hipster-Infrastruktur (Veganes Eis für 3000 Euro, gut ausgeleuchtete Läden für Klamotten mit witzigem Aufdruck, Cafés in denen man ohne Probleme einen Yogi-Tee serviert bekommt), aber die Wege sind noch nicht so ausgetreten. Selbst im Kreuzviertel fehlt noch viel zur absoluten Gentrifikation, was allen gelegen kommt, die zwar in einem Bildungsbürgerhipsterviertel leben möchten, aber das nicht den ganzen Tag unter die Nase gerieben bekommen wollen.
Drittens ist man in Dortmund noch ehrlich arm, nicht so wie in Leipzig und Berlin. Wenn hier jemand scheiße aussieht, dann ist das kein Style, sondern die finanzielle Unfähigkeit, besser auszusehen. Wenn in Dortmund jemand Rastas hat, dann ist das keine Frisur, sondern liegt am verpassten Haarekämmen. Wenn sich hier zwei Punker in der Bahn über ihren Hund unterhalten, dann nicht über die vegane Ernährung des lieben Tiers, sondern darüber, dass er bissig ist. Wenn in einem Dortmunder Park ein Festival ist, dann spielen da keine Indiepopbands und keine Trommeln-für-den-Frieden-Gruppen, sondern Coverbands mit Männern Mitte vierzig, die von den Toten Hosen bis Nirvana die Musikgeschichte von hinten penetrieren.
Dass Dortmund viertens ein Fußballteam hat, das man okay finden kann, wenn man nicht gerade aus Gelsenkirchen kommt, ist ja kaum einer Erwähnung wert. Für hippe Menschen ist das besonders aus Abgrenzungsgründen relevant. Man kann nämlich in einer so fußballvernarrten Stadt Sätze sagen wie: „Ach, auf den Westenhellweg gehe ich wirklich nur, wenn Dortmund spielt, dann ist da keiner“ oder „Ich habe da dieses total süße Café mit glutenfreiem Kuchen bei mir um die Ecke, da kann man auch abends schön sitzen, aber Fußball zeigen die zum Glück nicht.“
Außerdem hat Dortmund fünftens die perfekte Lage zwischen Bochum, Essen, Duisburg, Mülheim an der Ruhr, Schwerte, Werne, Lünen, Unna und ganz vielen anderen Orten, wo man überhaupt nicht hin will, über die man aber immer sagen kann, wie cool es ist, dass alles so nah beieinander liegt. Läuft der französische Indiefilm hier nicht? Fahr halt nach Bochum. Mit der Oma in münsterländer Fachwerkidylle Kuchen essen? Ab nach Werne. Intellektuell fühlen und in eine für die Größe der Stadt vollkommen überzogene Oper gehen? Zack, Essen! Und nach Unna… naja. Kann man auch mal hin. Das Ruhrgebiet ist was Nahverkehr angeht etwa wie Berlin: Man braucht für jeden Weg etwa eine Stunde.
Sechstens ist Dortmund winzig. Wenn die U-Bahn ausfällt, kann man einfach laufen, statt zu warten. Es gibt keine „Oh nein, das Restaurant ist am anderen Ende der Stadt“-Ausreden, denn es gibt kein anderes Ende der Stadt. Nach ein paar Wochen hat man Dortmund überschaut, seine eigenen Orte gefunden, Refugien in der Hässlichkeit, die man dann auf einmal vollkommen charmant findet.
Natürlich stimmen alle Vorurteile. Dortmund hat überall Nazis, denen es auch nicht peinlich ist, Nazi zu sein. Dortmund ist pottenhässlich. Dortmund ist krankhaft BVB-fixiert. Und bei manchen Dortmundern kommen alle diese drei großen Probleme zusammen. Trotz alledem: Man kann es durchaus lieben, hier zu leben.